Machen wir uns nichts vor

cropped-20110822-_MG_1244.jpgBei dem zermürbenden und teuren Geschachere zwischen Erdogan, Merkel und der EU geht es weder um die Flüchtlinge, noch um die EU, schon gar nicht um Humanität oder Unmenschlichkeit, um Freiheit oder Unterdrückung, um Menschenrechte oder Verletzung der Menschenwürde   – in erster Linie zumindest nicht. Das sind im günstigen Fall Kollateral-Nutzen, im ungünstigen Fall Kollateral-Schäden dieser Verhandlungen.

Es geht nicht um Flüchtlinge, es geht um Kapitalismus

Es geht in diesen verstörenden Krisenzeiten um die wirtschaftliche und politische Zukunft des Kapitalismus in Europa, festgemacht erst an der „Euro-Krise“, jetzt an der „Flüchtlingskrise“.

Allerdings, das wußte auch schon Karl Marx, Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus. Auf dem Spiel steht die Zukunft  eines liberalen Kapitalismus, der, zumindest im westlichen Europa, bisher von offenen Grenzen, einer offenen Gesellschaft und von demokratischen Verhältnissen profitiert hat. Eine Win-Win Situation von Kapitalismus, Demokratie und EU sozusagen. Deshalb, und vor allem deshalb unterstützt die deutsche Wirtschaft nicht nur offen den Kurs Merkels, mehr noch, sie ist die Urheberin dieses Kurses. Deshalb wagen die Seehofers und Söders auch nicht den offenen Königinnenmord und beissen sich an Merkel die Zähne aus.

Denn die Alternative zum „demokratischen“ Kapitalismus ist der politisch autoritäre und der mafiöse Kapitalismus, von dem es leider in Europa, vor allem im Osten, inzwischen genug abschreckende Beispiele gibt. Das Epizentrum dieser Art von „Kapitalismus“ ist  Putins Rußland, ein Magnet für antidemokratische Europäer aller Art. Putin setzt alles daran den wirtschaftlich stärkeren, aber politisch weicheren „demokratischen“ Kapitalismus in Europa zu destabilisieren. Ein gescheitertes offenes Europa, wieder zerfallend in einzelne Nationalstaaten, würde ihm da ganz neue Möglichkeiten bieten. Für ihn der Schlüssel dazu: „Merkel muß weg“.

Es geht um „demokratischen“ Kapitalismus

Die deutsche Wirtschaft ist zum Glück an einer offenen Wirtschaft interessiert. Sie ist nicht nur finanzkräftiger denn je, sie profitiert von der Finanzkrise wie keine andere nationale Wirtschaft in Europa. Sie ist auf  Export aus, sie benötigt dringend Arbeits- und Fachkräfte aus dem „Ausland“, mit Kleinbürgeridyllen kann man sich nicht als Global Player behaupten und „Schengen“ mindert schlicht und ergreifend die Reibungsverluste des Handels.

Und die deutsche Wirtschaft hat durch einen epochalen Zusammenbruch und die historische Lektion der DDR gelernt, dass Schießbefehle keine Wirtschaft machen, brachiale militärische Eroberungen sich nicht auszahlen, dass man durch Kriege nicht nachhaltig expandieren kann. Nicht mit Säbelrasseln, mit „Wandel durch Handel“, mit  „Soft Skills“ hat sie mehr erreicht als der vulgäre und brachiale Kleinbürgerkapitalismus der Nazis  es jemals erhofft hat – oder heute die AfD es wieder salonfähig zu machen versucht. Nachhaltige wirtschaftliche Expansion geht halt mit Demokratie besser als mit Diktatur.

So ist für die deutsche Wirtschaft auf  absehbare Zeit das „Einmauern“ keine Alternative für Deutschland oder Europa. Dies ist neben den vielen offenen und demokratischen Menschen in Deutschland und Europa, die wissen was auf dem Spiel steht, und die alles daran setzen, damit „wir“ das schaffen,  der wichtigste Garant dafür, daß die Dumpfbacken nicht die Oberhand gewinnen.

Aber die Kollateralschäden bei der Verteidigung der demokratischen Gesellschaften in Europa nehmen zu, nicht weil die Aufnahme der Flüchtlinge nicht zu leisten wäre, sondern weil den Demokratien zuviele Bürger abhanden kommen. Menschenrechte gelten immer weniger und Asylgesetze werden ähnlich wie bei den Kapitalzinsen soweit abgebaut, dass sie kaum noch spürbar sind.

Ausgerechnet Erdogan

Der bisher größte Kollateralschaden dieser Entwicklung: Merkel und die EU lassen sich, scheinbar alternativlos,  mit dem Despoten und Menschenrechtsverachter Erdogan ein. Dabei ist doch längst nicht ausgemacht, ob aus diesem Kollateralschaden nicht am Ende ein Totalschaden entsteht.

Machen wir uns nichts vor.

Walter L. Brähler

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